Weshalb der Versuch, kontrolliert zu trinken, ein Teufelskreis ist
- Stella

- 7. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Die meisten Wege heraus aus der Sucht beginnen zunächst mit dem Wunsch „kontrolliert trinken“ zu können. Dahinter steckt aber ein ganz anderes Bedürfnis: Normal zu sein. Dazu zu gehören. Zu einer Gesellschaft, in der Alkoholkonsum immer noch synonym für Alkoholgenuss, für Feiern, Entspannung und Livestyle steht. Folglich fühlen Sie sich falsch - und was tut "man" dann gewöhnlich? Man versucht, einen Weg zu finden, die Kontrolle zurück zu bekommen. Mit Trinkregeln. Mit "Alkoholfasten". Mit viel Anstrengung und Kämpfen. Nur um sich irgendwann wieder dort zu finden, wo man angefangen hat.
Ein Satz, der mir in meiner Tätigkeit als Mentorin immer wieder begegnet ist, ist der Stoßseufzer „es ist einfach ein Teufelskreis“. Irgendwie scheinen sich Krisen, Dramen und Rückfälle immer zu wiederholen. Es fühlt sich an wie „3 Schritte nach vorn und 5 Schritte zurück.
Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. Ein Kampf gegen Windmühlen, eine Sisyphos Aufgabe. Ich habe Jahrzehnte in dieser Schleife verbracht. Nicht weil es da so schön war, sondern weil ich es nicht anders kannte.
Und in diesem ermüdenden und anstrengenden Kampf, spielt neben dem Wunsch nach Kontrolle noch ein weiteres Muster eine wichtige Rolle. Ich vermute, dass auch Sie irgendwann einmal gelernt haben, dass man nichts Neues anfangen soll, bevor man das, was vorher war, nicht „ordentlich“ zu Ende gebracht hat. Im Fall der Alkoholabhängigkeit bedeutet das "erst analysieren und verstehen, woran es lag, bevor Sie über etwas Neues auch nur nachdenken." Das Fatale ist: Wenn Sie darauf warten, dann ist das Ende meist eines, dem nichts Neues mehr folgen wird.
Alkoholabhängigkeit kann nicht kontrolliert werden. Aber beendet.
Vor dem eigentlichen „Befreiungsschlag“ steht oft der Weg in eine Selbsthilfegruppe. Oder der Versuch, sich das notwendige Wissen anzulesen. Zu verstehen, weshalb andere „normal trinken“ können, Sie aber nicht. Und dort werden Sie vermutlich schnell hören, dass Alkoholismus und Sucht unheilbar seien. WEIL man niemals fähig wird, „normal = kontrolliert“ Alkohol zu konsumieren. Und deshalb auch nie unabhängig, sonder bestenfalls "zufrieden trocken" werden könne.
Ich bekomme diese krude Begründung immer wieder als Totschlagargument, wenn ich in solchen Umgebungen darüber spreche, das Alkoholabhängigkeit kein Schicksal und kein Scheitern am Leben ist, sondern eine Entscheidung, die man neu treffen kann.
Und damit wird deutlich, dass der Begriff Teufelskreis ein unlösbares Dilemma darstellt. Wie wollen Sie das Urteil "Alkoholiker bleiben sie ein Leben lang" mit dem Anspruch, etwas "ordentlich zu Ende zu bringen" verbinden? Eigentlich vermeide ich Rat-Schläge - hier gebe ich sogar zwei:
Am besten gar nicht.
Verlassen Sie jedes Umfeld, in dem Verunsicherung, Resignation und Angstszenarien im Fokus stehen.
Sie müssen weder aus einer Zustands-Diagnose eine Langzeit Prognose machen, noch müssen Sie eine Liste von Schritten oder To Do's abarbeiten, bevor Sie in ihr neues Leben starten. Eine klare Standort-Analyse und Entscheidung genügen vollkommen. In den beiden Artikeln zu meiner persönlichen Geschichte (siehe unten) habe ich beschrieben, wie ich gelernt habe, dass eine radikale Entscheidung der einzige nachhaltige Weg in Unabhängigkeit ist. Und gezeigt, dass diese Entscheidung in jeder Situation und unter allen Umständen möglich ist.
Es gibt einen Satz in einem Gedicht von Hilde Domin, der das für mich eindrücklich beschreibt: „Ich setze den Fuß in die Luft und sie trug“. Und so banal es klingen mag, es ist immer der erste Schritt nach vorn und nicht der Blick zurück, der Neues möglich macht. Was, wenn unser tief verwurzeltes Muster, alles erst verstehen, planen und wissen zu müssen, bevor wir neue Handlungen wagen, uns früher beschützt hat, aber heute einfach beendet werden kann? Wir müssen sie nicht verurteilen, aber wir dürfen sie beenden. JETZT.
Ein weiterer Satz, der mir in meiner Arbeit mit Menschen immer wieder begegnet, ist „Ich weiß, so geht es nicht weiter. Ich muss etwas ändern - ABER erst muss ich … damit ich dann wirklich bereit dazu bin“
Ich verstehe diese Logik und vor allem den Wunsch nach Kontrolle nur zu gut. Es wäre schön, wenn es eine Anleitung gäbe, mit der man Schritt für Schritt behutsam die Vergangenheit heilt, Punkt für Punkt auf einer Liste abhaken könnte und danach angstfrei, selbstsicher und selbstbestimmt in ein neues Leben startet. Ein Leben ohne Alkohol, ohne Abhängigkeit und erfüllt von echtem Genuss an Lebendigkeit und Selbstbestimmung.
Aber so eine Anleitung gibt es nicht. Und eigentlich ist das auch gut so. Denn so wie Sucht und Abhängigkeiten bei jedem Menschen verschieden sind, so ist es auch der Weg heraus.Dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit. Einen roten Faden, der Ihnen die einzige Sicherheit gibt, die möglich ist. NICHT darauf zu warten, dass irgendetwas zuerst geschehen muss, bevor sie losgehen dürfen. Erlaubnis. SIE müssen SICH erlauben, los zu gehen. Nicht „nachdem“, nicht „wenn erst“. JETZT.
Das Beitragsbild zeigt mich heute vor zwei Jahren. Zwei Tage vor der Seebestattung meines Mannes. Zu einer Zeit, in der ich „theoretisch“ am Ende meiner Kräfte hätte sein müssen. Eine noch frische Abstinenz. Ein schmerzhafter Abschied nach einer kräftezehrenden Begleitung.
Und dennoch war ich im Begriff, den mutigsten Schritt meines bisherigen Lebens zu gehen – ohne konkreten Plan, ohne Sicherheit, ohne Wissen wie es ausgeht. Ich hatte unsere gemeinsame Wohnung zu August gekündigt, einen einzigen Wohnungsbesichtigungs-Termin vereinbart und ja – ich hatte Angst. Aber ich wusste, wenn ich darauf warte, keine Angst mehr zu haben, dann würde sich dauerhaft niemals etwas ändern. Und dafür war ich bereit.
Heute weiß ich, nur so ist echte Unabhängigkeit und Frei BLEIBEN möglich.



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